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Aus «Ein Bergbauernbub am Heinzenberg»

1960
Hans Capadrutt

BÄSI ANNA

Meine Tante war eine dynamische Frau. Als Mama meinen Bruder und mich an einem Morgen zum Heuen auf eine Wiese unterhalb vom Dorf mitgenommen hatte, tauchte plötzlich Bäsi Anna auf. Energisch und ohne Mama um Erlaubnis zu fragen, nahm sie uns Buben an der Hand und schleppte uns nach Präz in die Scoletta.

Mit grossen Schritten lief sie voraus. Uns blieb nichts anderes übrig, als zu rennen. Die Bäsi streckte den kleinen Finger nach unten und sagte de i kini, was soviel hiess wie gib den Finger oder nimm meinen kleinen Finger. Und so klammerte ich mich an ihrem kleinen Finger fest, und sie zog mich hinter sich her bis in die Scoletta.

Mama war gerade das Gegenteil von Bäsi Anna, ganz ohne diese Dynamik. Sie hatte es, mindestens in den ersten Jahren, nicht leicht in der Familie meines Vaters. Ich erinnere mich an eine Szene, in der Öhi Balza, Papas Bruder, in der Stube auf Mama einredete, die weinte. Ich war noch zu klein, um zu verstehen, was los war, doch die Situation bedrückte mich.

«Bäsi Anna ist ein Ross!», sagte sogar Papa von seiner Schwester. Mit diesem Ross musste Mama dann mehrere Jahre im gemeinsamen Haushalt zurechtkommen. Mit ihr, Nana, Neni und Öhi Balza. Bald musste sie für alle kochen, weil die anderen mit der groben Arbeit im Feld und im Stall beschäftigt waren.

Eine riesige Arbeit gab natürlich die Wäsche für so viele Personen. Vor allem die Bettwäsche, die man etwa fünzig Meter durab – und später wieder duruf – zum und vom Untara Dorfbrunna schleppen musste, wo ein Holzofen mit einem riesigen Metall-Kessi stand.

Dieses Kessi wurde mit Wasser gefüllt und mit grossen Holzscheiten befeuert, bis das Wasser die nötige Temperatur hatte. Dann kam die Wäsche hinein. Die Leintücher, Kissen- und Bettdeckenanzüge wurden mit einer langen Holzkelle immer wieder gedreht und gesotten.

Mit der gleichen Technik, wie man Spaghetti um eine Gabel wickelt, wurde die Wäsche mit der Holzkelle zum Brunnen geschleppt und dort mit einer grossen Bürste im kalten Wasser geschrubbt, bis sie sauber war. Mama erzählte oft, was das für ein Krampf war.

Ein anderes Beispiel, warum Bäsi Anna von Papa als Ross bezeichnet wurde: Wir waren auf dem Maiensäss Prau Pigniel am Heuen. Papa und Bäsi Anna warfen das Heu auf den Wagen, jeder von einer Seite. Das Fuder war schon ziemlich hoch, doch die Bäsi stemmte ihre Heugabel mit soviel Kraft und Schwung in die Höhe, dass das Heu auf der anderen Seite Papa auf dem Kopf landete statt auf dem Fuder.

Papa sagte manchmal, seiner Schwester fehle ein Mann. Dann mussten wir lachen, weil wir alle wussten, dass es kein Mann schaffen würde, sie zu zähmen.

Martin Bundi, der nachmalige SP-Nationalrat, gab in jungen Jahren eine Zeit lang Schule in Präz. Papa erzählte einmal, dass er damals an meiner Tante interessiert gewesen sein könnte. An sich hätte das gut gepasst, könnte man meinen. Sie und er, ein Oberländer und späterer Präsident der Renania, wären mit ihrem Romanisch wie Schwester und Bruder gewesen.

Bäsi Anna war eine Kämpferin. Sie kämpfte bis zu ihrem frühen Tod für ihr Romanisch und speziell für ihren Präzer Dialekt, den Plead da Preaz. Sie schrieb Gedichte und Liedtexte, erzählte im romanischen Radio Geschichten und redete mit uns immer romanisch. Wir verstanden ungefähr, was sie sagte, antworteten aber meist auf Deutsch, weil wir wegen Mama in unserer Familie – der Familie innerhalb Papas Familie – nur Deutsch sprachen.

Mama wollte auf keinen Fall Romanisch lernen. Sie sagte mir später einmal, dass sie diese Sprache gehasst habe. Also muss sie trotz ihrem zierlichen Äusseren doch ziemlich stark gewesen sein, wenn sie sich gegen Bäsi Anna durchsetzen konnte.

Interessant ist, dass Tata, Mamas Mutter, in Sarn mit Nesa, der ich damals das Brot vom Dorfladen gebracht hatte, romanisch redete. Romanisch war damals am äusseren Heinzenberg noch stark verbreitet. Warum Mama davon nicht inspiriert wurde, weiss ich nicht. Sie war eben von ihrem Vater her eine Walserin, eine von Langwies.

Viele Jahre später, als ich als Schriftsetzer in der Druckerei Bischofberger in Chur arbeitete, half ich Bäsi Anna einmal, ihr eigenes Heinzenberger Romanisch unverändert zu veröffentlichen.

Pfarrer Michael aus dem Schams war damals Redaktor der romanischen Zeitschrift «Casa Paterna», die ich betreute. Bäsi Anna schickte ihm ihren Beitrag in ihrem Romanisch und schrieb, dass sie es genau so gedruckt haben wolle. Als das Manuskript in der Druckerei und bei mir im Satz ankam, waren die Randspalten voll roter handschriftlicher Korrekturen, die ich für den Druck ausführen sollte. Pfarrer Michael hatte Bäsi Annas Heinzenberger Romanisch ins Schamser Romanisch abgeändert.

Ich nahm das korrigierte Manuskript mit nach Dalin und zeigte es meiner Tante. Sie war empört und befahl mir, alles so zu lassen, wie sie es geschrieben habe. Also machte ich in Bäsi Annas Auftrag keine Korrekturen. Ihr Artikel wurde im Heinzenberger bzw. im Präzer Romanisch gedruckt.

Als Pfarrer Michael das las, war er empört, und wie! Ich entschuldigte mich mit Bäsi Annas Auftrag, da sie ja die Autorin sei. Deshalb hätte ich gedacht, dass sie das Sagen habe.

Wer die romanische Mentalität kennt, versteht, dass Pfarrer Michael mir das nie vergessen konnte. Natürlich habe auch ich das nie vergessen, denn schliesslich habe auch ich fünfzig Prozent romanisches Erbe in mir.

Vor etwa zwanzig Jahren ergab es sich, dass wir uns anlässlich eines Evangelischen Kirchentages in Valendas an einem Tisch in der Turn- und Festhalle gegenüber sassen. Pfarrer Michael war schon sehr alt und erkannte mich nicht mehr. Man kam am Tisch ins Gespräch. Ich merkte, dass er gerne gewusst hätte, wer und woher ich und mein Begleiter waren. Wir sagten, wir kämen von Domat/Ems; unsere Frauen seien dort im Kirchenvorstand. Darauf fragte Pfarrer Michael, wie denn meine Frau heisse. Als ich den Nachnamen nannte, ging ein Ruck durch den alten Mann. Er bekam glänzende Augen. Hob die Hand mit gestrecktem Zeigefinger gegen mich: «Sie! Sie haben mir damals die Korrekturen von Annas Artikel nicht gemacht! Ohhh! Ja, ja! Das war nicht in Ordnung!»

Dann schwieg er, verlor sich in Gedanken und schaute mich nur noch ab und zu intensiv an. Wahrscheinlich erlebte er in der Erinnerung noch einmal seine Schamser-Romanisch-Niederlage und den Sieg von Bäsi Anna mit ihrem Heinzenberger Romanisch. Das hatte er nicht vergessen. Und ich auch nicht.

Pfarrer Michael habe ich nie mehr getroffen. Jetzt ist er ja schon seit vielen Jahren in den anderen Welten, wo, so hoffe ich auf jeden Fall für ihn, Schamser Romanisch gesprochen wird. Und auch Bäsi Anna ist schon lange gestorben und könnte vielleicht ganz in der Nähe von Pfarrer Michael logieren. Magari hat sie sogar Anhänger für ihr Romanisch gefunden oder arbeitet mit Pfarrer Michael zusammen an einem Rumantsch in Tschiel.

Im Beruf und auch im Militär war ich oft mit Romanisch sprechenden Leuten zusammen. Doch jedes Mal, wenn ich etwas von meinen bescheidenen Heinzenberger Romanisch-Kenntnissen von mir gab, erntete ich Gelächter. «Was ist denn das für ein Romanisch?» hiess es. So bin ich darauf gekommen, das Erbe von Bäsi Anna für mich zu behalten, und habe jetzt fast vieles vergessen.

Das meist gehörte Romanisch in meiner Umgebung ist das Oberländer Romanisch, und das tönt doch sehr anders, als das von Bäsi Anna. Als Kinder haben wir uns immer über das mira leu! von Mengia, der Frau von Gieri in Dalin, lustig gemacht. Wir sagten ja «varda» für «schau» nicht «mira» wie die Oberländer.

Ich habe immer wieder daran gedacht, doch noch richtig Romanisch zu lernen. Dieses Vorhaben ist daran gescheitert, dass kein Romanisch dem von Bäsi Anna genug ähnlich war. Und etwas anderes wollte und konnte ich nicht lernen. Die Prägung durch meine dynamische Tante war wohl einfach zu gross.

Eines Tages kaufte die Bäsi sich eine Geige. Fortan hörten wir ab und zu seltsame Geräusche aus dem unteren Stock, wo sie mit Nana, Neni und Öhi Balza wohnte. Meine Tante versuchte, das Geigenspiel sich selber beizubringen.

In diesem Fall wäre etwas mehr Bescheidenheit allerdings von Vorteil gewesen. Ich kann mich an keinen einzigen schönen, harmonischen Ton erinnern, der zu uns in den oberen Stock herauf geklungen wäre. Es tönte jeweils eher wie das gequälte Jammern einer unglücklichen Seele im Fegefeuer oder wie das Geräusch von seit Jahren nicht mehr geölten Eisenscharnieren einer Stalltüre. Mir tat die schöne Geige leid.

Mir fällt aber auch auf, dass Bäsi Annas Charakter sich irgendwie quervererbt haben könnte und gewisse Anlagen von ihr auch in mir vorhanden sind. Auch ich habe immer zu Extremismus geneigt und habe mir nie gerne etwas sagen lassen. Das führte dann dazu, dass ich für alles, was ich lernen wollte, länger brauchte als jemand, der einfach das übernahm, was schon andere herausgefunden hatten.

Bäsi Anna hatte im Verborgenen aber auch ein Herz aus Gold. Sie wurde aufgrund ihrer Tätigkeit in der Scoletta für etwa zwanzig Kinder als Gotta angefragt. Sie nahm alle Anfragen an und verteilte auch jedes Jahr so viele Geschenke, wie sie Patenkinder hatte.

In ihr brannte eine enorme Liebe, die sie eben nicht einem Mann und eigenen Kindern, sondern dem Romanischen und ihren Patenkindern weitergab. Sie war sehr kreativ, bastelte, malte und kreierte Spiele. Ich kann mich an Puzzles erinnern, die sie selbst zeichnete, anmalte und dann mit der Laubsäge zuschnitt. Natürlich spielte sie Flöte und sang mit uns in der Scoletta. Sie schrieb viel, dichtete und liess sogar ein Büchlein mit ihren Gedichten drucken. Es gibt auch romanische Lieder mit ihren Texten, die heute noch Chöre in der Gegend ab und zu vortragen.

In der Scoletta bastelten wir mit Bäsi Anna Kasperlifiguren aus Zeitungspapier, das wir im Wasser auflösten und dann im Leim tränkten. Nachdem wir aus dieser Masse das Wasser herausgepresst hatten, konnten wir Gesichter für die Kasperlifiguren formen und, wenn das Material trocken war, anmalen. Im Hals machten wir von unten her ein Loch bis in den Kopf. Dann kam ein Kleid mit Ärmeln dazu, und wir konnten mit drei Fingern die Figur bespielen. In den Kopf kam der Zeigefinger, in die Ärmel der Daumen und der Mittelfinger.

Bäsi Anna spielte uns auch oft Kasperlitheater vor. Das machte sie so gut und dramatisch, dass wir vor Angst schlotterten und uns fast die Haare zu Berge standen. Ihre Figuren schrien, weinten, lachten und kämpften, dass wir völlig aus dem Häuschen gerieten und uns fast nicht mehr beruhigen konnten. Sie feierte mit uns auch bei Kerzenlicht Kinderweihnachten in der Turnhalle. Daran habe ich ganz wunderbare Erinnerungen.

Besonders viel Freude hatte ich an den biblischen Geschichten in der Sonntagsschule. Bäsi Anna hängte an die Wand jeweils ein weisses Tuch mit dem See Genezareth. Darauf heftete sie die Figuren von Jesus und den Jüngern, die sie auf Karton gemalt und ausgeschnitten hatte. Dass diese Figuren auf dem Tuch hafteten, faszinierte mich. Ich hätte gerne gewusst, wie das möglich war. So wie mich auch brennend interessierte, wie die Leute im Jelmoli-Katalog von Mama farbig und lebensecht aufs Papier kamen. Diese Neugier war wohl einer der Gründe, weshalb ich später einen Beruf in der Druckbranche gelernt habe.

Viele Jahre später, als meine Eltern, meine Frau und ich uns im Spital Thusis von Bäsi Anna verabschiedeten, war ich danach lange unsäglich traurig und niedergedrückt. Ich wusste, dass ich sie zum letzten Mal gesehen hatte. Sie gab mir und meiner Frau, die sie immer Ruthli nannte, noch die sanfte Ermahnung mit auf den Weg, gut zueinander zu schauen.

Bevor ich die Türe zu ihrem Zimmer schloss, drehte ich mich noch einmal um. Bäsi Anna schaute geradeaus in die Ferne, in das neue Land, in das sie bald gehen würde. Ich wusste, dass sie keine Zweifel hatte. Sie war eine religiöse Frau. Sie hatte mich nicht nur in der Scoletta viel gelehrt, sondern auch in der romanischen Sonntagsschule.

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Hans Capadrutt
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