Aus «Ein Bergbauernbub am Heinzenberg»
Spiele
Die Baumhütte
Die Weide um Danlarasch wurde von uns nicht nur zum Viehhüten benutzt. Sie war auch unser Hauptspielfeld ausserhalb des Dorfes.
Eines Tages beschlossen mein älterer Bruder Christian und Mario aus Präz, in Danlarasch eine Baumhütte zu bauen. Mario war etwas älter als mein Bruder und ein begabter Praktiker. Alles, was andere in der Schule konnten, hatte er in den Händen.
Für ihr Projekt wählten die Beiden eine besonders grosse Tanne aus. Sie stand auf der Weide an einem Steilhang, nur etwa zwanzig Meter oberhalb dem Weg mit der Lärche, an der Luzi die junge Krähe vor unseren Augen getötet hatte.
Die Tanne war über zwanzig Meter hoch; ihr Wipfel hatte sich in drei starke Äste verzweigt. Die untersten Äste hingen fast bis auf den Boden, so dass man leicht hinauf klettern konnte. Ideale Voraussetzungen für das Projekt Baumhütte.
Für den Bau brauchte man natürlich geeignetes Material. Werkzeuge, Nägel, Schrauben und Holzlatten waren schnell beschafft.
Stabile Bretter für den Boden, die Wände und das Dach zu finden, war etwas schwieriger. Doch dann fand man sie ganz in der Nähe. Sie bildeten den Zaun, der Luzi Sommeraus Wiese von der Weide von Danlarasch trennte.
Von diesem Zaun verschwand dann ab und zu ein Brett. Einmal da, einmal dort, einmal in der Zaunmitte, meist aber in Bodennähe, wo es nicht so leicht auffiel, wenn eines fehlte. So zwanzig, dreissig Bretter oder mehr verschwanden in dieser Zeit aus dem Zaun zu Luzis Wiese. Die Diebe benutzten für ihr Vorhaben vorsichtshalber die Dämmerung, wenn Luzi noch im Stall die Kühe versorgte oder schon beim wohlverdienten Znacht am Küchentisch sass.
Danach wurde auf der Baustelle gearbeitet. Wochenlang kletterten man auf der Tanne herum. Hinauf, hinunter und wieder hinauf. Es wurde gesägt, gehämmert und genagelt. Um die Bretter auf den Baum zu transportieren richtete man eine Seilbahn ein, die von der Baustelle hoch oben im Baumwipfel in einem etwa dreissig Grad Winkel nach unten an den Steilhang auf der gegenüberliegenden Weide führte. Eine Kiste diente als Behälter, mit dem das Material an einem Zusatzseil auf die Tanne gezogen wurde. Als Landeplatz für die Seilbahn benutzten die Beiden jene Stelle am Hang, die ich, Albert und Ernest mit der Absicht, unsere eigene Hütte zu bauen, dort gegraben hatten. Leider blieb es beim Aushub. Keiner von uns verfügte über genug praktisches Talent.
Als Luzi irgendwann begann, Kontrollgänge zu machen, weil in seinem Zaun immer mehr Bretter fehlten, reagierte man mit der Einführung eines Geheimcodes. Wurde Luzi gesichtet ertönte der Ruf «uaremmos tmmok!» Rückwärts buchstabiert: «Sommerau kommt!»
Als die Baumhütte fertig war, durfte auch ich hinauf. Vorsichtig kletterte ich dann eines Tages von Ast zu Ast. Immer höher und höher, bis ich den Boden der Hütte sah. Um zum Eingang zu gelangen, musste man unter den drei dicken Ästen, auf denen die Hütte ruhte, hindurchklettern. Das bedeutete, dass man eine überhängende Stelle überwinden musste. Das brachte mich ins Schwitzen. Doch ich überwand meine Angst und gelangte glücklich, auf allen Vieren kriechend, in die Hütte.
Als ich dort aufstand, war ich überwältigt, wie gut der Bau gelungen war. Einmal drinnen, fühlte ich mich sicher. Die Wände rundum aus stabilen Brettern, die Spalten dazwischen mit Moos abgedichtet. Das Dach, leicht schräg, ähnlich dem von ds Professors. Auf einer Seite hatte man ein kleines Fenster in die Wand gesägt, aus dem man ins Tal hinunter blicken konnte. An einer Wand stand ein kleiner Holztisch mit zwei Stühlen. Alles selbst gezimmert. Dort wurde gegessen und ab und zu Mühle gespielt.
Doch für drei Personen war die Hütte etwas eng. Nach einer Weile kam ein Wind auf, alles begann zu schwanken. Ich fühlte eine Schwäche im Bauch, sagte «tschau» und trat den Rückzug an. Mit den Beinen voran schob ich mich aus der Hütte, ertastete mit den Füssen den Ast unter dem Eingang, hangelte mich unter ihm durch auf den nächst tieferen Ast und kletterte von dort, so schnell ich konnte, weiter nach unten. Wieder auf dem sicheren Waldboden angekommen, ging es mir bald besser. Trotzdem beschloss ich, diesen Besuch nicht so bald zu wiederholen. In bezug auf Mut und Verwegenheit konnte ich mich nicht mit meinem Bruder messen.
Etwas später errichteten Christian und Mario in einer Ecke ihrer Baumhütte mit ein paar grossen Steinen eine Feuerstelle. Feuer in einer kleinen Hütte aus Holz, auf einer Wind und Wetter ausgesetzten Tanne in über zwanzig Metern Höhe?
Konnte das gut gehen?
Eines Abends, als es schon dunkel war, rief plötzlich jemand auf der Haustüre, dass es in Danlarasch brenne. Christian sprang sofort aus dem Haus und rannte davon, in die Dunkelheit und den Weg hinaus nach Danlarasch.
Ich folgte mit meinen Eltern und anderen Dalinern. Bei Sontg Onna blieben wir stehen und sahen, wo es brannte. Wie sich später herausstellte, hatte die Baumhütte Feuer gefangen, weil der Wind noch Glutreste in der Feuerstelle gefunden hatte.
Andere Daliner rannten meinem Bruder nach. Später erzählten sie, dass er, als sie ankamen, schon auf die Tanne und zur brennenden Hütte hinauf geklettert war. Es gelang ihm, in die Hütte zu gelangen und den Brand zu löschen, indem er Teile der brennenden Bretter nach unten warf und so dem Feuer die Nahrung entzog. Als er mit den anderen Helfern wieder bei Sontg Onna auftauchte, waren wir alle heilfroh, dass ihm nichts passiert war.
Die Baumhütte wurde leider später von Buben einer Zürcher
Ferienkolonie in Präz besucht und beschädigt. Als Antwort auf dieses Vandalentum sägte man auf mehreren Metern die untersten Äste der Tanne ab. So wurde der Aufstieg viel schwieriger und war, für mich auf jeden Fall, nicht mehr zu machen. Doch die Zürcher Buben überwanden irgendwann auch diese Hürde und zerstörten die Hütte fast ganz.
Viele Jahre später brach ein Sturm die Tanne entzwei. Der obere Teil fiel auf den Boden. Von der schönen Baumhütte von Mario und Christian blieben nur noch ein paar Bretter übrig, die mit den Jahren auf dem Waldboden vermoderten.
Militärlis
Ein Sonntag im Sommer. Ich stehe am Küchenfenster. Papa kommt, gut gelaunt und mit grossen Schritten, vom «Grossa Hus» her auf das Haus zu. Er trägt seinen Sonntagsanzug mit dem grauen Fischgrat-Muster, über der rechten Schulter den Karabiner. Auf seiner linken Tschopasita glänzt eine Kranzauszeichnung, wie fast immer, wenn er von einem Schützenfest kommt.
Der 300-Meter-Schiessstand der ehemaligen Gemeinde Präz liegt ziemlich weit unter den Dörfern Dalin und Präz. Auf Höhe der Baria, die der Vater von Werni und Jakob Elmer einst gepachtet hatte. Geschossen wurde über ein Tobel zur Wiese bei der Burg Heinzenberg, wo sich an einem Hang der Scheibenstand befand.
An einem Sonntag lief ich mit meinen Brüdern zusammen den Feldweg von Dalin in die Baria hinunter zum Schützenhaus. Wir wollten endlich sehen, was dort drin genau ablief. Je näher wir kamen, desto lauter krachte es. Noch vor der Tür erschreckte mich der Schiesslärm so, dass ich am liebsten umgekehrt wäre.
Die Schützen empfingen uns freundlich, ermahnten uns, still zu sein, und schossen weiter. Es herrschte eine fast feierliche Stimmung. Nur das unheimliche Krachen passte nicht dazu.
Männer lagen in separaten Holzboxen auf dem Bauch, den Karabiner im Anschlag, manche mit einer Brille auf der Nase, die ein Auge halbseitig zudeckte. Hinter den Schützen in der Box ein kleiner Klapptisch und ein ebensolcher Stuhl, wo ein Mann sass, der die Ergebnisse auf ein vorgedrucktes Formular schrieb.
Neben jedem Schützen lagen wild verstreut leere Patronenhülsen. Nach jedem Schuss schoben die Männer einen Hebel am Karabiner zurück und wieder nach vorn. Die leere Hülse spickte dabei in hohem Bogen aus dem Lauf und auf den Boden.
Nach dem Schiessen waren die Boxen übersät mit den leeren Patronenhülsen aus Messing. Wir Buben bekamen die Aufgabe, sie zu sammeln und in einen Behälter zu füllen. Bei dieser Gelegenheit liessen wir ab und zu eine Hülse im Hosensack verschwinden. Zu Hause legten wir unsere Beute auf einen Haufen, zählten die Hülsen und versteckten sie, weil wir nicht sicher waren, ob verboten war, was wir gemacht hatten.
Unsere Hauptspielzeuge waren, wie wohl bei allen Buben damals, Pfeil und Bogen. Für den Bogen besorgten wir uns eine kräftige Haselstaude aus Danlarasch, sägten sie auf die richtige Grösse und schnitten mit dem Sackmesser an jedem Ende eine Kerbe in den Stecken. Eine Schnur diente als Sehne, und fertig war der Bogen. Das war einfach. Wichtig war, dass der Haselstecken frisch und biegbar war.
Schon schwieriger war es, gute Pfeile herzustellen. Dazu benutzten wir dünne gerade Haselruten, spitzten sie zu und schnitten hinten eine Kerbe für die Sehne hinein. Weil das Flugverhalten aber unbefriedigend war, verbesserten wir unsere Technik.
Wir schnitten Hühnerfedern in etwa fünf Zentimeter lange Stücke, machten einen Längsschnitt durch den Stil und steckten die beiden Teile links und rechts in einen Spalt am Pfeilende. So flogen die Pfeile viel besser, fast schon wie bei den Indianern. Meist hielten sie aber nicht lange, und wir mussten die Federn mit einem feinen Draht oder einem starken Faden umwickeln.
Eines Tages kamen wir auf die Idee, unser Waffenarsenal mit einem Balester zu verstärken. Balester war für uns das Wort für Armbrust. Zuerst zeichneten wir die ganze Form vom Lauf bis zum Schaft auf ein sehr dickes Brett. Dann sägten wir in stundenlanger Arbeit den Lauf und die Armstütze heraus.
Für den Bogen bohrten wir ganz vorne ein Loch durch den Lauf und zogen eine kräftige Haselrute hindurch. Auf der ganzen Länge schnitzten wir in mühsamer Handarbeit mit dem Stichel eine halbrunde Kerbe ins Holz, wo der Pfeil zu liegen kam. Es gelang uns sogar, einen Abzug zu installieren, in den die Schnur eingehakt werden konnte und beim Abdrücken den Pfeil wegschnellte.
Es dauerte nicht lange, und wir kamen auf die Idee, an Stelle der Pfeile die Patronenhülsen aus dem Schiessstand für unseren Balester zu benutzen. Dazu wurde das Geschütz auf einen grossen Holzklotz montiert, an den wir zwei kleine Räder schraubten.
Deia, der Sohn vom «Alten Deia» bot sich als Hauptmann an. Unter seinem Kommando zogen wir Buben in Einerkolonne mit unserer Kanone durchs Dorf, an Sontg Onna vorbei auf die Wiese oberhalb der Strasse nach Präz. Dort gingen wir mit unserer Balester-Kanone in Stellung. Als Ziel wählten wir die Isolatoren an den Telefonmasten neben der Strasse.
Nachdem ein Schütze bestimmt war, gab der Kommandant den Befehl «Laden!» und dann «Feuer!»
Die meisten Patronenhülsen trafen das Ziel bei weitem nicht. Sie flogen in hohem Bogen durch die Luft, drehten sich um die eigene Achse und spickten bei der Landung auf der Strasse klirrend noch etwas umher. Doch das entmutigte uns nicht. Wir schossen weiter. Schuss um Schuss. Jeder wollte einmal schiessen. Es dauerte eine ganze Weile, keiner hatte Erfolg.
Doch dann machte es plötzlich «ping!» Eine Patronenhülse hatte einen der weissen Isolatoren getroffen. Das motivierte uns. Als es dann noch einmal «ping!» machte und noch einmal, stellten wir fest, dass zwei Isolatoren nur noch halb so gross waren wie vor der Schiessübung.
Das gab uns zu denken. Bei weiteren Treffern wäre die Telefonleitung vielleicht beschädigt worden. Der Kommandant brach die Übung sofort ab und führte uns zurück ins Dorf. Wir verstauten unsere Kanone und beschlossen, in Zukunft Ziele zu wählen, die nicht Allgemeingut waren.
Mit den Patronenhülsen experimentierten wir aber noch weiter und kamen irgendwann auf die Idee, sie mit grünen Zündholzköpfen zu füllen. Diese waren explosiver als die braunen. Zündhölzer hatten wir wie ein Sackmesser immer dabei, doch die Grünen mussten wir uns von zu Hause erbetteln. Zum Glück wusste Mama nicht, wozu wir so viele brauchten.
Mit diesem «Sprengstoff» füllten wir dann eine Patronenhülse und verschlossen sie, indem wir mit einem Hammer vorsichtig die Öffnung zuklopften. Die Patrone stellten wir auf eine Steinplatte. Kassel, der Älteste von uns, nahm einen grossen Stein, stellte sich breitbeinig über die Hülse und lies das Gewicht genau senkrecht fallen. Es gab einen Knall, so laut wie ein Schuss. Wir erschraken zünftig. Ein Teil der Patrone war, wie ein Geschoss, an uns vorbeigezischt. Die völlig platt gedrückte Hülse war glühend heiss.
Trotz dem ersten grossen Schrecken machten wir aber noch weitere Versuche. Es war einfach zu aufregend. Manchmal traf der Stein die Hülse nicht richtig. Dann fiel sie einfach um und rollte von der Steinplatte, ohne zu explodieren.
Als Mama sich dann weigerte, uns weiter mit Nachschub zu versorgen, mussten wir unser Experiment notgedrungen einstellen.
Piliez
Wenn es langsam Frühling wurde, auf den Wiesen immer mehr apere Stellen zum Vorschein kamen und überall neues Leben entstand – Schneeglöckchen in den Gärten, Blütenknospen an den Bäumen –, dann begaben wir Buben uns in den Holzschopf, suchten ein langes Holzscheit, öffneten unsere Sackmesser und fingen an, einen Piliez zu schnitzen.
Ein Piliez war ein Pfeil der mit einem kurzen Stecken, an dem eine Schnur angebracht war, senkrecht in den Himmel geschossen wurde. Es war eine Kunst, ihn so zu schnitzen, dass er sauber startete und sehr hoch hinauf flog.
Der Pfeil musste so aus dem Holzscheit herausgearbeitet werden, dass aus dem hinteren Teil eine etwa drei bis vier Zentimeter breite, möglichst flache Stabilisierungsflosse entstand, in die eine dreieckige Kerbe hinein geschnitten wurde. Der Mittelteil musste sich zur Spitze hin verdicken und schön rund sein. Mit der Messerschneide wurde dann die Mitte gesucht und dort eine Kerbe hinein geschnitten, schräg und tief und breit genug, dass die Schnur mit dem Knoten hineinpasste. Die Kerbe durfte nicht zu eng sein, sonst blieb der Pfeil an der Schnur hängen, zu weit aber auch nicht, sonst fiel der Pfeil beim Abschwung zu Boden.
Das Ganze war eine Herausforderung. Wir verbrachten viele Stunden damit, den perfekten Piliez zu schnitzen. Zum Schluss wurde jeder Pfeil mit Wasserfarbe angemalt, so dass man wusste, wem er gehörte.
Wenn dann jeder ein paar Pfeile fertig hatte, begaben wir uns auf eine schon apere Wiese – meist auf Prautuasch –, klemmten die Schnur vom Abschussstecken in die Piliezkerbe, beugten uns (als Rechtshänder) tief nach links zur Erde und schleuderten den Pfeil mit möglichst viel Schwung in den Himmel hinauf. Ich staunte immer wieder, wie weit die Pfeile hinauf schossen, immer kleiner wurden und oft sogar aus unserem Blickfeld verschwanden.
Manchmal konnten wir ausmachen, wo sie herunterkamen, manchmal aber auch nicht. Dann stapften wir durch die verbliebenen Schneefelder und suchten unsere Pfeile. Oft steckten sie so tief im sulzigen Schnee, dass wir sie nur dank der farbigen Heckflosse finden konnten.
Das Holzauto
Eines Tages kamen wir auf die Idee, ein Auto aus Holz zu basteln, eines, das so gross war, dass man draufsitzen und damit den Berg hinunter fahren konnte. Dieses Projekt beschäftigte uns dann mehrere Wochen.
In stundenlanger Arbeit sägten wir in unserer Werkstatt die Räder aus einem grossen Brett heraus und bearbeiteten sie mit der Raspel so lange, bis sie ungefähr rund waren. In die Mitte bohrten wir ein Loch für die Achse. Für den Boden nahmen wir ein Brett.
Als Hinterachse wurde eine dicke Holzlatte auf das Brett genagelt und zwei Räder dran geschraubt. Das war soweit einfach.
Das Problem war das Renken, das Steuern der Vorderräder. Da mussten wir uns etwas einfallen lassen. Wir bohrten dann in die Mitte von Fahrzeugboden und Vorderachse ein Loch für eine grosse Schraube, die wir oben und unten mit einer Mutter festdrehten. So liess sich die Achse frei bewegen. Allerdings nur, wenn die Schraube gut geschmiert war.
Das Steuerrad ersetzten wir durch eine Schnur, die links und rechts neben den Rädern an der Achse befestigt wurde. Indem wir daran zogen, konnte das Gefährt gelenkt werden. Dank dem Umstand, dass wir am Berg wohnten, hatten wir keine Mühe, eine Fahrstrecke mit genügend Gefälle für die Abfahrt zu finden.
Natürlich wollten wir dann auch irgendwann ein richtiges Steuerrad haben. Daran bastelten wir viele Stunden. Doch das funktionierte nie zufriedenstellend. Ab und zu löste sich beim Renken sogar ein Rad von der Achse und rollte die Strasse hinunter. Zum Glück hatten wir in unserer Werkstatt immer genug Schrauben für die Reparaturen.
Ds Rössli-Spiel
Beim Rössli-Spiel knüpften wir eine etwa drei Meter lange Schnur zusammen, legten sie dem, der das Rössli spielte, über den Nacken und zogen sie unter seinen Schultern hindurch nach hinten.
Ein Kind spielte den Fuhrmann, nahm das Leitseil in beide Hände, rief «Hüh!», und das Rössli galoppierte mit einem lauten «Wiiiihhh!» los. Der Fuhrmann musste hinter dem wilden Ross her rennen und versuchen, es zu lenken. Meist hatte man Mühe, es zu bändigen, denn diese Rösser waren wirklich wild. Sie galoppierten über Stock und Stein, durch die Dorfgassen, zwischen den Ställen durch und auch über die Steintreppe, die zwischen unserem und dem Nachbarhaus hinunter führte.
Manchmal konnte der Fuhrmann das Ross nicht mehr halten und musste die Schnur loslassen. Dann galoppierte das Pferd wiehernd und schnaubend alleine durchs Dorf, bis es ihm zu langweilig wurde und es sich wieder einfangen liess.
Auch ich spielte einmal so ein wildes Ross und rannte schnaubend durch die Prärie. Als mein Fuhrmann merkte, dass ich von der Strasse über die oben erwähnte Steintreppe hinunter rennen wollte, liess er das Leitseil los, weil er mir nicht folgen konnte. Eine Sekunde später verfing sich die Schnur in der Laube neben der Treppe. Es riss mich nach hinten ... Ich fiel auf den Rücken und knallte mit dem Hinterkopf auf die Steintreppe.
Ich wache mit Kopfschmerzen auf, liege in der Stube auf dem Kutschi. Doktor Bonifazi kommt zur Türe herein, stellt seinen Koffer ab, zieht eine Taschenlampe hervor und leuchtet mir in die Augen. Nach ein paar weiteren Untersuchungen meint er, ich hätte Glück gehabt, es sei nur eine Hirnerschütterung.
So einen Arzt wie Bonifazi gibt es heute nicht mehr. Bei Wind und Wetter immer bereit, für seine Patienten ins Auto zu steigen oder sogar einen Fussmarsch auf sich zu nehmen, wenn die Gegend abgelegen war. Er kam auch im Winter, wenn wir Grippe und hohes Fieber hatten.
Ich sehe ihn noch vor mir, wie er mich mit seinem Stethoskop abhorcht. Am Rücken, unten, oben, auf der Brust, links und rechts. Das gab mir ein Gefühl von Geborgenheit und Vertrauen. Und das sichere Wissen, dass ich wieder gesund werden würde.
Eines Tages fuhr Mama mit mir im Postauto nach Thusis zu Doktor Bonifazi. Der Grund: Ich hatte angefangen, mich immer öfter zu räuspern. Papa räusperte sich zwar auch, doch bei einem Buben in meinem Alter könne das nicht normal sein, fand man.
Vom Bahnhof Thusis liefen wir die Strasse duruf, über die Hauptstrasse und rechts die Spitalstrasse hinauf bis wir zur steilen Steintreppe an der alten Strasse gelangten, die zum Haus von Dr. Bonifazi führte. Mir war nicht ganz wohl bei diesem Besuch. Was würde der Doktor mit mir machen, was herausfinden?
Der drückte zuerst einmal mit einem Holzstäbchen meine Zunge nach unten. «Sag Ah», und ich sagte «Ah». Das kannte ich von seinen Besuchen zu Hause, das war nicht schlimm. Dann leuchtete er mit seiner Taschenlampe in meinen Hals, schrieb etwas auf ein Blatt Papier, leuchtete noch einmal in meinen Hals ..., schwieg.
Ich bekam ein mulmiges Gefühl. Mama wohl auch, denn sie fragte, was los sei mit meinem Hals. Doktor Bonifazi schrieb nochmals auf das Blatt und sagte dann, in meinem Hals wäre ein roter Punkt, der bei jedem Räuspern immer röter würde. Das war alles.
Diese Diagnose beschäftigte mich noch jahrelang. Ein roter Punkt, der immer röter wurde, je öfter ich mich räusperte? Ich musste mich jeden Tag immer wieder räuspern und konnte mir, so oft ich es auch versuchte, einfach nicht vorstellen, wie viel röter als dunkelrot das Rot in meinem Hals dabei noch werden konnte.
Heute denke ich, dass der schlaue Doktor Bonifazi einen psychologischen Trick anzuwenden versuchte. Er dachte wohl, das Räuspern sei nur eine schlechte Gewohnheit und beim Gedanken an den roten Punkt im Hals würde ich damit aufhören.
Genützt hat der Trick auf jeden Fall nicht. Ich habe mich mein Leben lang geräuspert, manchmal mehr, manchmal weniger, je nach dem Katarrh in meinem Hals. Auch mein Neni hat sich oft geräuspert und auch gehustet. Das Ergebnis spuckte er dann in das mit Sackmehl gefüllte Speuztrückli, das neben seinem Stuhl auf dem Stubenboden stand.
Wie es war, bevor es Autos und Doktor Bonifazi gab, kann ich mir gar nicht vorstellen. Papa erzählte, dass Öhi Balza einmal unter grossen Schmerzen mit einer Blinddarm-Entzündung von Dalin nach Thusis ins Spital gelaufen sei, weil es keine andere Möglichkeit gegeben habe. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn der Blinddarm unterwegs geplatzt wäre.
Heute beschleicht mich schon ein schlechtes Gefühl, wenn ich unterwegs merke, dass ich mein Handy zu Hause vergessen habe. Was, wenn etwas passieren würde? Es gibt ja keine Telefonkabinen mehr, auf jeden Fall keine, die man wie früher mit Münzen bedienen könnte.
Um mich zu beruhigen, sage ich mir dann, dass wahrscheinlich sowieso alles nach einem bestimmten Plan abläuft. Was ist, das ist, und was sein soll, das soll sein. Gemäss dem Lied «Che serà serà», das Doris Day im Film von Alfred Hitchcock «Der Mann, der zuviel wusste» sang, als ich sieben Jahre alt war.
Das Lied wurde 1957 mit dem Oscar ausgezeichnet. Ich wünschte, ich wäre damals schon älter gewesen. Vielleicht hätte ich sogar Doris Day kennen gelernt, und mein Leben hätte eine ganz andere Richtung genommen ;-)
Ds Wäsali-Spiel
Beim Hüten, während das Vieh weidete, hatten wir viel Zeit für Spiele. Eines, das wir oft machten, war ds Wäsali-Spiel.
Zuerst suchten wir ein ebenes Plätzchen, wo wenig Gras wuchs. Dort schnitten wir mit dem Sackmesser einen etwa ein Zentimeter breiten und ebenso tiefen Graben um eine Fläche von etwa dreissig auf dreissig Zentimeter. Das kleine Wieslein darin teilten wir mit weiteren Gräben in so viele verschieden grosse Teile als Teilnehmer waren.
Nach der Auslosung, bei der jedem Teilnehmer sein Stück zugeteilt wurde, schleuderte der Erste das Messer in sein Feld. Wenn er traf und das Messer stecken blieb, durfte er die Länge der Messerspitze, so tief sie in die Erde eingedrungen war, vom Feld wegschneiden. Wer sein Feld zuerst abgearbeitet hatte, war Sieger.
Natürlich kam es schon bei der Auslosung darauf an, ob man das grösste oder das kleinste Feld zugeteilt bekam. Jeder wollte natürlich das kleinste, weil man dann schneller fertig war. Es kam aber auch darauf an, ob man sein Feld überhaupt traf. Das war gar nicht so leicht, weil man das Messer kniend von etwa Schulterhöhe ins Feld schleudern musste.
Flöten aus Haselstauden
Eines Tages im Frühling zeigte uns Deia, wie man aus einem Stück einer Haselrute eine kleine Flöte herstellt. Rund ums Dalinertobel gab es genügend Haselstauden, die sich bestens dafür eigneten.
Zuerst wurde mit dem Sackmesser ein Stück aus einer Staude, etwa acht Zentimeter lang und vielleicht gut einen Zentimeter im Durchmesser, herausgesägt. In den Kopfteil der Haselflöte wurde, in einem etwa fünfundvierzig Grad Winkel, das Mundstück geschnitzt. In den unteren Teil der Rinde kamen die Löcher für die verschiedenen Töne.
Das Sackmesser an der Schneide haltend klopfte Deia dann mit dem Griff immer wieder auf die mit Speichel benetzte Rinde. Das wiederholte er solange, bis sich die Rinde vom Holz löste und das Holz herausgedreht werden konnte.
Das Holzteil vom Mundstück wurde weggesägt und mit dem Messer am oberen Teil abgeplattet. Danach kam es wieder in die Rinde. Ein Stück vom restlichen Ästchen wurde von unten in die Rinde gestossen und verschloss den Luftkanal nach unten. Danach konnte man auf der kleinen Flöte spielen, fast wie auf einer echten.
Es gab auch noch ein Variante ohne Löcher. Die funktionierte wie eine Zugposaune. Indem wir das herausgedrehte Ästchen auf und ab bewegten, änderte sich der Ton stufenlos.
Wasserspritzen
Während beim Heuen die Erwachsenen nach dem Znüni oder Zvieri noch Kaffee tranken, plauderten und etwas ausruhten, benutzten wir Buben die Gelegenheit zum Spielen.
Die meisten Wiesen waren von Stauden und Hecken gesäumt. Dort mussten wir von Hand mähen, auf Papas Befehl bis ganz an die Stauden heran.
Oft standen die Stauden an einem Hang gegen ein Tobel, wo wir vom Gebüsch weg nach oben mähen mussten. Das war sehr anstrengend, dafür aber auch schattig und kühler als auf der offenen Wiese. Und da gab es viel zu entdecken. Zum Beispiel hochgewachsene Pflanzen, die nur am Wasser wachsen. Sie hatten harte, hohle Stengel, die nach etwa zwanzig Zentimetern eine neue und dünnere Stufe aufwiesen. Der Übergang von einer Stufe zur nächsten wurde durch eine dünne Membran abgeschlossen.
Daraus machten wir Wasserspritzen, indem wir zwei Stufen so auswählten und zuschnitten, dass eine dünnere Stufe genau in die dickere hineinpasste. Am Ende der dicken Stufe machten wir ein kleines Loch in die zugewachsene Fläche und konnten so Wasser aus dem Bach aufsaugen und umherspritzen.
Traktörli
In Danlarasch spielten wir mit Traktörli, mit Fahrzeugen, die wir mit Fadenspulen aus Holz herstellten.
In die Ränder der leeren Fadenspulen schnitzten wir Kerben, damit sie in der Erde besser greifen konnten. Für den Motor im Inneren der Spule bekamen wir von Mama einen Einmachglas-Gummi und ein kleines Stück Seife. Wir zogen den Gummi durch die Fadenspule und befestigten ihn auf einer Seite mit einem kleinen Nagel. Auf der anderen Seite zogen wir ihn durch das kleine gelochte Stück Seife, schnitten ein Loch hinein und steckten ein etwa fünf bis sechs Zentimeter langes Hölzchen hindurch. Dieses Hölzchen drehten wir dann so lange herum, bis der Gummi-Motor aufgezogen war. Wenn wir nun das aufgezogene Traktörli auf den Boden setzten, fing die Spule sich an zu drehen, weil sich das eingedrehte Gummi entwickeln wollte. Die Kraft, die dadurch entstand, wurde durch das lange Hölzchen, das auf dem Boden auflag, auf die Spule übertragen, und dadurch bewegte sich unser Gefährt vorwärts.
So hatten wir selbstgebastelte Fahrzeuge, an denen wir grosse Freude hatten. Wir bauten Hügel und Durchgänge unter den Lärchenwurzeln von Danlarasch und liessen unsere Traktörli über Berge, Steine und Wurzeln klettern, durch Tunnels fahren und Rennen machen.
Aus Aststücken schnitzten wir auch Kühe, Kälber und Rinder. Die Ställe für unser Vieh gruben wir unter den Wurzeln in die Erde oder bauten sie aus Hölzchen und Steinen zusammen.
Schära fanga
Für die Bauern waren die vielen Maulwurfshügel, die im Frühling in den Wiesen entstanden, ein Ärgernis. Für jede gefangene Schära erhielten wir Buben darum von der Gemeinde fünzig Rappen. Das war eine willkommene Gelegenheit, etwas Sackgeld zu verdienen. Meine Brüder waren darin ziemlich erfolgreich. Ich konnte mich nicht recht dafür begeistern, begleitete die Fänger jedoch auf die Wiese und schaute ihnen zu, wie sie das machten.
Die Schermausfalle bestand aus einem dicken Draht und war aufgebaut wie eine Schere. Um die Falle zu spannen musste man sie zusammendrücken und einen Ring dazwischen klemmen. Das brauchte viel Kraft und konnte auch schief gehen. Wenn das Metall nass war, rutschte der Ring, der die Falle offen hielt, weg und es konnte passieren, dass man seine Finger einklemmte.
Die gespannte Falle wurde behutsam in den Bau geschoben und der Eingang vorsichtig wieder mit Erde verschlossen. Wenn die Schermäuse dann durch ihren dunklen Ganz zum Eingang liefen, stiessen sie mit ihrer spitzen Schnauze an den Ring ... Die Falle klappte zu, und aus war es mit der Maus.
Um die fünzig Rappen zu bekommen, hackten meine Brüder mit dem Bieli die beiden grossen vorderen Schaufeln mit den kräftigen Krallen ab und brachten sie nach Präz zu Jöri. Jöri war ein alter Mann, der alleine in einem Haus in der Nähe des Pfarrhauses wohnte und schwerhörig war. Meist hatte er sein Radio so laut aufgedreht, dass man es bis auf die Strasse hinaus hören konnte.
Nachdem wir lange und laut «Holla!» in den dunklen Gang hinein gerufen hatten, schlurfte Jöri zur Tür, nahm meinen Brüdern die Schermauskrallen aus den Händen, prüfte sie, verschwand wieder im dunklen Gang und kam – nach längerer Zeit – mit den Rappen zurück.
Eines Tages überredete Albert mich, auch mit dem Fangen von Schermäusen anzufangen und bot mir selbstlos seine gebrauchten Fallen zum Kauf an. Ich nahm seine Fallen und bezahlte. Albert kaufte sich dann mit meinem Geld neue Fallen und bezahlte dafür weniger, als ich ihm für seine gebrauchten gegeben hatte. Er wusste natürlich, was die neuen Fallen kosteten, ich nicht. Über diesen Handel freute er sich jahrelang. Für ihn war es das, was er auch später als Bauer am liebsten tat: mit Handeln Geld verdienen.
Ich wurde denn auch kein erfolgreicher Schermausjäger. Nur einmal fand ich eine Maus in einer meiner Fallen. Sie war klein und dünn und nass vom Regen. Und es tat mir leid, dass sie wegen mir hatte sterben müssen.
Holunder-Pfeifen
Eines Tages kamen wir beim Hüten auf die Idee, aus Holunderstauden Pfeifen zu machen. Wir hatten gemerkt, dass das Mark dieser Staude sehr weich war und leicht mit dem Messer und einem starken Draht herausgearbeitet werden konnte.
Wir brauchten einen Ast, der dick genug für den Pfeifenkopf war und an dem, in einem etwa fünfundvierzig Grad Winkel, ein dünnerer Zweig wuchs, möglichst noch leicht gebogen. Wenn dieser Ast herausgesägt war, hielten wir schon die grobe Form der Pfeife in der Hand.
Das Herausarbeiten vom Mark war jedoch aufwendig und erforderte viel Geschick. Besonders der Durchstich von der Biegung zum Pfeifenkopf war schwierig hinzukriegen. Wenn wir es dann geschafft hatten, am Mundstück sogen und einen Luftzug spürten, flippten wir fast aus vor Freude.
Den Tabak ersetzten wir durch dürre Farnblättern, die überall auf der Weide wuchsen. Dass das kein grosser Genuss war, kann man sich leicht vorstellen. Eigentlich war es die beste Anti-Raucher-Übung, die ich mir denken kann. Sogar das Rauchen von Niela war besser.
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